27. September 2022
Tibetan Centre for Human Rights and Democracy (TCHRD), www.tchrd.org

Chinas Null-Covid-Politik treibt in drei Tagen fünf Tibeter in den Selbstmord

Neunundvierzig Tage sind vergangen, seit die chinesischen Behörden einen kompletten Lockdown verhängten, um die Ausbreitung von Covid-19 in Lhasa und anderen größeren Städten der Autonomen Region Tibet (TAR) zu stoppen.

Chinas strikte Durchsetzung seiner Null-Covid-Politik in zentralen Teilen Tibets hat zwischen dem 23. und 25. September bisher fünf Tibeter in der Stadt Lhasa veranlaßt, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Videos, auf denen zu sehen ist, wie einige von ihnen vom Dach eines Gebäudes in den Tod springen, sind im Internet aufgetaucht.

Stadtteile von Lhasa, in denen sich Tibeter zu Tode stürzten

Nach Informationen, die auf Plattformen der sozialen Medien wie Weibo und WeChat veröffentlicht wurden, sprang eine nicht identifizierte Person am 23. September im Stadtteil Gakyiling 3 in Lhasa in den Tod.

Die fünf Personen, die am 23., 24. und 25. September durch Selbstmord starben, stammten aus der umfassenden Schutzzone Nr. 2 (West-Lhasa), der Bayi-Gemeinde (südwestlich von Norbulingka), der Lanting-Wohnung (nahe der Tibet-Universität) und dem Gakyiling-Viertel 3 (östlich von Lhasa).

Beiträge in den sozialen Medien, die über die Nöte der Tibeter berichten, werden sofort gelöscht, und viele der Konten, auf denen solche Beiträge erschienen, werden gänzlich geschlossen. In einem Weibo-Posting, das am Abend des 24. September neben einem Bild eines Wohnhauses im Stadtteil Gakyiling 3 veröffentlicht wurde, hieß es: „Heute hat es in Lhasa geregnet, als wolle der Himmel um den Verstorbenen trauern. Nur die Toten können den Himmel erreichen. Das Reich der Menschen ist die Hölle. Nur diejenigen, die in Lhasa leben, können die Situation der Epidemie in Lhasa verstehen. Ich bitte alle, sich um uns zu kümmern. Ich fordere die Behörden auf, die Massen nicht länger zu täuschen. Die Massen haben zu sehr gelitten. Das China Central Television und People's Daily [große staatliche Medien] sehen dies vielleicht nicht, aber ich denke, jeder sollte die Situation kennen“.

Am 25. September wurde ein weiterer Beitrag mit dem Bild einer toten Person, die auf dem Rücken auf einer Treppe liegt, und einer Nachricht veröffentlicht: „Was bedeutet Covid-Prävention und -Kontrolle für uns? Jedes Leben [das Leben der einfachen Menschen] hat keinen Wert. Verzweiflung. Verzweiflung. Niemand meldet sich zu Wort. Selbst wenn jemand spricht, kann seine Stimme nicht über die Dangla-Berge [Zentraltibet] hinaus dringen. Diese Leben müssen im Himmel glücklich sein, weil sie diesem Höllenreich entkommen sind.“

Die Zensoren der chinesischen Regierung haben die oben zitierten Beiträge bereits gelöscht. Aber einer der Kommentare zu diesen Beiträgen lautete: „Extreme Unterdrückung hat vier Menschen das Leben gekostet. Dies kann nicht weiter toleriert werden. Aber man hätte nicht protestieren sollen, indem man sein Leben hingibt.“

Ein anderer schrieb: „Es ist jetzt wirklich unerträglich, aber man sollte nicht sein Leben opfern, um zu protestieren“.

„Was für ein Verlust! Nachdem er so viel Leid ertragen hat, ist er schließlich zerschellt“, kommentierte ein anderer.

Ein tibetischer Jugendlicher, der durch Selbstmord starb.

Toter Tibeter, der aus einem Gebäude sprang

Ein weiterer Kommentar lautete: „Da wir keine andere Wahl haben, werden in unserer kleinen Gemeinschaft solche Taten begangen.“

Ein WeChat-Account zeigte Gebete für den Verstorbenen: „Freunde in Lhasa, handelt nicht abrupt aus einem Impuls heraus“. Darauf antwortete eine Person: „Wir haben vier Menschen aufgrund extremer Einschränkungen verloren, und alle sind von Gebäuden gesprungen.“

Ein anderer Kommentar lautete: „Eine Person ist gerade von einem Gebäude gesprungen, womit sich die Zahl der Selbstmorde auf fünf erhöht hat. Bitte tun Sie das nicht. Selbstmord wird das Problem nicht lösen.“

Nachrichten, die das Dangla-Gebirge nicht überqueren können  

Eine noch nie dagewesene Anzahl von Beiträgen in den sozialen Medien, darunter auch Videos von Tibetern über die Covid-Krise in Zentraltibet, veranlaßte die chinesischen Behörden in der Stadtverwaltung von Lhasa zu einer öffentlichen Entschuldigung für ihr Versagen, auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen und ihre Probleme zu lösen. Seitdem wurde jedoch kein einziges Video mehr hochgeladen. Die Warnung der chinesischen Polizei, Whistleblower und andere freimütige Internetnutzer zum Schweigen zu bringen, wurde offensichtlich in die Tat umgesetzt.

Aus Informationen, die TCHRD von Quellen in Lhasa erhalten hat, geht hervor, daß alle, die sich nach der offiziellen Entschuldigung geäußert hatten, festgenommen wurden. Die Beschränkungen für Online-Konten wurden verschärft. Die nicht infizierten Menschen sind immer noch mit den Kranken in Lhasa unter Quarantäne gestellt. Die Abriegelungsmaßnahmen wurden verschärft, so daß viele hungern und in der eisigen Kälte leiden müssen.

Ein Student aus Lhasa prangert Zensur und Mißwirtschaft im Namen der Null-Covid-Politik an
Abgesehen von den Regierungsstellen gibt es derzeit nur sehr wenige Online-Posts zur Covid-Situation. Die wenigen, die etwas posten, hoffen, daß die „Schreie über die Dangla-Berge [Lhasa oder Zentraltibet] hinausgehen.“ Ein Weibo-Nutzer schrieb: „Nur die Leute aus Lhasa wissen von der epidemischen Situation in Lhasa. No one is speaking up. Selbst wenn jemand spricht, geht es nicht über die Dangla-Berge hinaus.“

Ein Student aus Lhasa schrieb: „Was auch immer wir sagen und was wir posten, kann nicht außerhalb Tibets verbreitet werden. Alles, was wir auf Weibo und anderen [Online-Plattformen] posten, wird sofort entfernt. Die offiziellen Zahlen über die Anzahl der infizierten Menschen und andere Informationen sind nicht wahr. Am Anfang war ich aufrichtig motiviert und arbeitete als Freiwilliger. Ich hoffte, daß wir die Epidemie schnell überwinden würden. Doch die Art und Weise, wie die Behörden vorgingen, hat bei uns Angst ausgelöst. Ich kann nicht in Worte fassen, welche anderen, dringenden Probleme wir haben. Bitte habt Erbarmen! Kümmert euch mehr um die Covid-Krise in Lhasa.“

Auf einem anderen Account hieß es: „Es schmerzt mich sehr, meine tibetischen Brüder und Schwestern so leiden zu sehen. Ich bete, daß mit der Unterstützung aller die Informationen über die Epidemie in Tibet über die Dangla-Berge hinaus bekannt werden!“